Historische Anmerkungen

DAS VALMALENCO, EIN AUSGANG ZUM RHÄTIEN (*)

von Saveria Masa

Die geographische Lage vom Valmalenco hat seit jeher als Kulisse seiner historischen Ereignisse gedient. Hinter der Hauptstadt der Provinz Sondrio gelegen, öffnet es sich im Norden der Schweiz (Engadin, Puschlav und Bergell), und stellte über Jahrhunderte einen wichtigen Korridor alpiner Verbindungen dar.

Seine besondere Lage verlieh diesem Gebiet seit den ersten Jahrhunderten eine strategische Rolle in Politik und Wirtschaft, sowohl in der sozialen als auch in der religiösen. Dies ist hauptsächlich auf das Verhältnis der gegenseitigen engen Abhängigkeit, die seit Jahrhunderten das Tal mit der Stadt Sondrio verbindet und dem Ausgang nach dem churischen Rhätien und den deutschen Gebieten, den das Tal garantierte zurückzuführen, dank der Anwesenheit einer tausendjährige Verkehrsader, die Pferdestraße des Murettenpass. Dieser Weg führte der Länge nach durch das ganze Valmalenco und über den Murettenpass (2562 m) und bot eine direkte Verbindung zwischen dem Veltlin und dem Oberengadin und Bergell an.

Seine historische Bedeutung entwickelte sich während des XI. und XII. Jahrhunderts, als die Herren von Sondrio, die Capitanei, ihre gerichtliche Zuständigkeit auf das Valmalenco erweiterten und ihr Schicksal mit dem des Tales untrennbar miteinander verflechteten, vor allem, als ihre Anwesenheit in Sondrio militärisch strategisch, während des endlosen Kampfes um die Herrschaft der Stadt Como, wurde. Dank ihrer besonnenen Allianzpolitik mit den engadiner und bergeller Nobelfamilien, gelang es ihnen ihre eigene Front Guelfe mit der jenseits der Alpen gelegenen zu festigen, die von dem mächtigen Bischof von Chur geleitet wurde.

Es war eine Reaktion der Notwendigkeit die militärische Front zu festigen, die die Hauptstadt direkt mit dem benachbarten Schweizer Tal verbindet, und man vermutete, dass, entlang der Murettostraße, die Feudalherren von Sondrio ein Verteidigungssystem und Wachtürme gebaut oder verbessert haben. An strategischen Punkten stationiert und auf beiden Seiten des Mallero gelegen, erlaubten diese Gebäude ein effektives Leuchtsignalnetz mit der Burg Masegra, die oberhalb von Sondrio liegt und der Aufenthaltsort der Capitanei war.

Das XIV. Jahrhundert bildete eine bedeutende Ära für die administrative und soziale Entwicklung des Tales, da es bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein Gebiet war das ‘quadra de Malenco’genannt wurde, im Laufe des Jahrhunderts wurde das gleiche Quadra einer internen Teilung unterzogen, die vielleicht mit einem Bevölkerungswachstum zusammenhängt, zur Bildung von quadre die wichtigen Ballungszentren entsprechen: San Giacomo (Chiesa), Bondoledo, Campo und Milirolo (Torre di S.Maria), Caspoggio und Lanzada.

Die Umgestaltung der Verwaltung des Tales geht im Gleichschritt mit dem Erwerb einer größeren Autonomie von Sondrio, auch in religiösen Dingen, von dessen Kirchen das Valmalenco bis 1624 abhängt (das Jahr der Einichtung der autonomen Pfarrkirchen). Dies führte zu einer leistungsfähiger Organisation der Seelsorge. Im fünfzehnten Jahrhundert baute jede Gemeinde des Tales eine eigene Kirche für die Gottesdienste, somit mußte die Bevölkerung nicht mehr in das einzige vorhandene religiöse Gebäude, das der SS. Giacomo und Filippo in Chiesa, die seit dem XII. Jahrhundert im Tal ist.

Am Tage nach dem graubündnerischen Herrschaftsantritt im Veltlin (1512), machte die Randregierung der Graubündner, mit Standort in Sondrio, das Gebiet Valmalenco zu einer schnellen Verbindungsstraße zwischen dem freien Staat der Tre Leghe und dem Zentrum ihres neuen Herrschertums über die Straße und Pass des Murettos. Diese Straße wurde schnell zu einer der poltisch strategischsten der Graubündner, so wie auch die verkehrsreichste Handelsstraße. Vor allen Dingen verkehrten Schweizer Händler auf der Straße des Muretto, die im Veltlin verschiedene Waren kauften, insbesondere den berühmte Wein, den man an den steilen Terrassen in Sondrio anbaute. Der freie Handel mit den Graubündnern verlieh der malenkischen Wirtschaft einen erheblichen Antrieb, die sich vor allem im Verkauf von Molkereiprodukten und die Verarbeitung von Speckstein und Schiefer auswirkte. Die Herstellung von Serpentinitespaltplatten zur Dachabdeckung, ( piode) war seit dem Spätmittelalter die wirtschaftliche Hauptaktivität des Valmalenco.

Der Verkehr auf dieser Straßenader, die das Leben und die Organisation der Talgemeinschaft modelliert hatte und blühend und lebendig bis zur Hälfte des XVIII Jahrhunderts war (sie hatte auch die politischen und kriegerischen Angelegenheiten, die im 17.Jahrhundert auf harte Probe gestellt wurden, gut überstanden), fing schon in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts an, die ersten Verfallsanzeichen zu zeigen, wahrscheinlich in Verbindung mit dem wachsenden Volumen des Verkehrs auf anderen leichteren rhätischen Strecken wie der Bernina oder der Splügen. Ein Verfall, der ein wahrer Zusammenbruch geworden ist, als, vom Jahre 1797 an, die graubündnerische Regierung durch die napoleonische und später von der österreicherischen Regierung abgelöst wurde. Die Talstraße, die sich jetzt selbst überlassen war, kam immer mehr zu einem ausgetretenen Pfad herunter, der am Schluß Schmugglern, Schäfern, die im Engadin arbeiteten, erste Touristen und Bergliebhaber, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert die Schönheiten der Bergtäler entdeckten, diente. 1862 stellt ein geschichtliches Datum dar, der Anfang des Alpinismus im Tal: Die Bezwingung des Gipfels des monte Disgrazia, die “glorreiche Bergspitze” (3678 m), seitens vier englischen Alpinisten. Darrauffolgend, im Jahr 1872 wurde die Veltliner Ortsgruppe des italienischen Alpenvereins Cai eröffnet und 1880 wird die Berghütte Scerscen-Marinelli (2900 m) gebaut. Die Frühzeit des neuen Jahrhunderts lernte eine neue Entwicklung ohne Gleichens in der alpinistischen Praxis und den allgemeinen Bergtourismus kennen: man eröffnet Hotels, man baut weitere Berghütten und ein neuer Beruf nimmt im Tal Gestalt an, der des Bergführers.

Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert hatte das Valmalenco trotzdem bemerkenswerte Rückstöße wegen der Schließung des jahrhundert alten Ausgang gen Norden (die Straße des Muretto) erlitten: das was folgte war eine allgemeine Verarmung der lokalen Gesellschaft und der Wirtschaft. Neben den sich langsam breitmachenden touristischen Aktivitäten, zwischen zwei Weltkonflikten und die dadurch geforderten Menschenopfer, kam die Agrar- und Wiesenwirtschaft des Tals bis aufs reine Bestehen herunter, der Bergbau, dem zum größten Teil die kommerziellen Ausgänge fehlten, erleidete genauso einen bemerkenswerten Rückgang. Viele Einwohner entschieden deswegen, oft endgültig, auszuwandern, sie wählten ferne Ziele wie Übersee, Argentinien, Amerika, Australien

Die allgemeine Entvölkerung der Berggemeinden, vor allen Dingen zur Stadt Sondrio, charakterisierte die ganze zweite Hälfte des 20.Jahrunderts, trotz des wieder aufblühen der Berwerksarbeiten und die neuen Arbeitsmöglichkeiten mit dem Bau des Wassrrkraftwerkes und den Staudämmen Campo Moro und Alpe Gera (1955-65).

Für die im Tal gebliebenen änderte sich die Situation nur mit Beginn des Wirtschaftswachstum in den sechziger Jahren, die zu einer touristischen Entwicklung führte, vor allem die des Wintersports. Der Bau der Seilbahn Chiesa Palù, die Sessellifte nach Sasso Alto, weitere Sessellifte in der Gemeinde Caspoggio, die schnelle Erweiterung der Unterkünfte, der Geschäfte, der Freizeitstrukturen und das wachsende Bauwesen, haben eine tiefe Veränderung im Laufe von wenigen Jahrzehnten in das landschaftliche Gesicht des ganzen Tales gebracht.

Literaturnachweis

  • Bergomi Matilde, Politica e amministrazione in Val Malenco nell'Età Moderna, Società Storica Valtellinese, Sondrio 2006
  • De Bernardi Luigi, Valmalenco, una lunga storia. Quasi una antologia sulla Valle del Mallero, Sondrio 1986
  • Masa Annibale, A Chiesa, un tempo, 'si andava a Giovello' ... Le piode della Valmalenco dal 1300 a oggi, Sondrio 1994
  • Masa Saveria, Fra curati cattolici e ministri riformati. Nicolò Rusca e il rinnovamento tridentino in Valmalenco,Sondrio 2011
  • Masa Saveria, La "strada Cavallera" del Muretto (Valmalenco). Transito e commerci su una via retica fra Valtellina e Grigioni in epoca moderna, Tesi di laurea, Università degli Studi di Milano, a.a. 1992/1993
  • Masa Saveria, Una comunità e il suo santuario: storia e devozione, in Francesca Bormetti – Saveria Masa, Il santuario della Madonna delle Grazie di Primolo, Chiesa in Valmalenco, Parrocchia di Primolo 2007, pp. 22-153
  • Salice Tarcisio, Note sul «Castello di Malenco», in “Bollettino della Società Storica Valtellinese” n. 32 (1979), pp. 87-92